EKG Interpretation bei Kindern

Inhaltsverzeichnis

Autoren: med. pract. K.Wechselberger (INS), Dr. H.P. Kuen (Kinderkardiologie), Dr. L. Stelling (INS)
Version: 06/2021

Einleitung

Die EKG Interpretation bei Kindern unterscheidet sich im Wesentlichen nicht von den Erwachsenen. Allerdings gibt es im kindlichen EKG einige Besonderheiten die physiologisch sind, während sie im Erwachsenenalter als pathologisch gelten. Zudem gelten altersabhängige Normwerte bezüglich Herzfrequenz, Lagetyp und Intervalle.

Zur Auswertung des EKG empfiehlt sich ein systematisches Vorgehen:

  1. Rhythmus
  2. Herzfrequenz
  3. Lagetyp
  4. Zeitintervalle (PQ, QRS, QTc)
  5. Hypertrophiezeichen
  6. Repolarisation (ST Strecke, T-Welle, U-Welle)

Siehe auch: Flowchart EKG Interpretation bei Kindern

Rhythmus

Handelt es sich um einen Sinusrhythmus oder nicht? Ist der Rhythmus unregelmässig oder nicht?

Kriterien Sinusrhythmus: P-Welle positiv in I, II, und aVF; negativ in aVR. P-Welle vor jedem QRS-Komplex.

Kindliche Besonderheiten:

  • Respiratorisch bedingte Sinusarrhythmie: Unregelmässiger Sinusrhythmus mit Pulsschwankungen in Funktion der Atmung. Reflektorische Puls Akzeleration bei Inspiration und Puls Dezeleration bei Expiration. Physiologisch im Kindesalter.
  • "wandernder Schrittmacher" (Abb.1): Kurzzeitiger Wechsel des Schrittmachers ausgehend von einem Sinusrhytmus zu einem ektopen Fokus. Im EKG erkenntlich anhand eines Wechsels der Achse der P-Welle. Physiologisch im Kindesalter.

Abb. 1 wandernder Schrittmacher

  • junktionaler Rhythmus: Erregungsleitung ausgehend von AV-Knoten. Im EKG erkenntlich als QRS Komplexe ohne vorausgehende P-Welle. Bei Kindern oftmals im Schlaf, physiologisch falls intermittierend vorkommend.
  • Extrasystolen: Vorzeitig einfallende Herzaktion. Supraventrikuläre Extrasystolen mit schmalem QRS (cave: bei zusätzlichem Schenkelblock auch mit breitem QRS), ventrikuläre Extrasystolen mit breitem QRS und fehlendem vorausgehender P-Welle. Supraventrikukäre Extrasystolen sind häufig bei Neugeborenen und können im Verlauf spontan verschwinden.

Herzfrequenz

Ist altersabhängig mit Abnahme der Herzfrequenz (HF) bei zunehmendem Alter (Tab.1).

Berechnung: HF = 60 / RR- Intervall in sec

Schätzung: Zählung der Anzahl "grosse Kästchen "(5mm) zwischen zwei aufeinanderfolgenden QRS-Komplexen. Bei Papierlaufgeschwindigkeit von 25 mm/s ergibt sich die geschätzte HF = 300 / Anzahl grosse Kästchen.

DD Bradykardie: Hypervagotonie (Sportler, Anorexie, Husten, naso-oesophagealer Stimulus, Hirndruck...), Medikamente, Schilddrüsenunterfunktion, AV-Blockierungen…

Lagetyp

Der Lagetyp entspricht der intraventrikulären Erregungsausbreitung bzw dem elektrischen Hauptvektor der Ventrikel. Der Lagetyp ist altersabhängig (Tab.1) und wandert mit zunehmendem Alter von rechts nach links. "Dies widerspiegelt die Entwicklung der rechts- und linksventrikulären Muskelmasse mit dem Wachstum: Bei Geburt besteht aufgrund der intrauterinen Druckverhältnisse eine physiologische rechtsventrikuläre Hypertrophie. Durch Rückgang der physiologischen pulmonalen Hypertonie wird der rechte Ventrikel postnatal entlastet und die relative Muskelmasse des rechten Ventrikels geht zurück."3). Somit ist ein für Erwachsene pathologischer Rechtstyp für Neugeborene physiologisch während ein für Erwachsene normaler Linkstyp bei Kindern auf eine Linksbelastung hindeutet.

DD altersentsprechend abnormer Lagetyp: Ventrikelhypertrophie, Ventrikeldilatation, anatomische Abnormität (z.B. überdrehter Linkstyp und Rechtshypertrophie bei Atrioventrikulären-Septumdefektem (AV-Kanal, AVSD) oder Trikuspidalatresie).

Ermittlung Lagetyp: Im EKG ermittelt sich der Lagetyp anhand der Achse des QRS-Komplex in den Extremitäten Ableitungen (I-II-III)  mit Hilfe des Cabrera-Kreises (Abb.2):

  • Ermittlung der Nettoamplitude des QRS-Komplexes (positiver Amplitudenanteil – negativer Amplitudenanteil) in den Extremitäten Ableitungen (I-II-III) 
  • Eintragen der beiden grössten Nettoamplituden im Einhoven Dreieck (Abb.2)
  • Fällen des Lots von der jeweiligen Spitze dieser Amplitude
  • Kreuzung der Lotlinien entspricht der Spitze des Hautvektors

Schnelle Bestimmung des Lagetyps: Mittels Abb.3:

Besonderheiten:

  • Sagittaltyp (SI- SII-SIII bzw QI-QII-QIII Typ): Vektor weist nach anterior bzw. posterior ab. Die QRS Komplexe sind alle etwa gleich positiv bzw negativ.
  • SI-QIII Typ: auffällig betontes Q in der Ableitung III und auffällig tiefe S-Zacke in Ableitung I. DD: Lagetyp bei Rechtsherzbelastung, ungewöhnliche Thoraxform

Zeitintervalle

Die Zeitintervalle sind altersabhängig (Tab.1). Die Ausmessung der Zeitintervalle soll in Ableitung II erfolgen mit systematischer Beurteilung von folgenden Intervallen:

  1. PQ Intervall
    • AV-Blockierungen
  2. QRS Dauer / Komplex
    • Schenkelblöcke
  3. QT Intervall

PQ Intervall:

Entspricht der Erregung über die Vorhöfe und Überleitung von den Vorhöfen über den AV-Knoten und das His-Purkinje-System auf die Kammern. Endet mit Beginn der Erregungsausbreitung in den Kammern. Ist abhängig von Alter und der Herzfrequenz (Tab.1). Je höher die HF desto kürzer PQ, je älter das Kind desto länger PQ.

  • Verlängert: DD AV-Block 1°, hoher Vagotonus, ausgeprägte Sinusbradykardie, Medikamentös (Digitalis, Betablocker, Antiarrhythmika), Hypo-/Hyperkaliämie, virale / rheumatische Myokarditis, spezieller Herzfehler (AVSD, Ebstein, ASD)
  • Verkürzt: DD Präexzitation (z.B. WPW-Syndrom, Abb.5), AV-Ersatzrythmus (ektoper, nicht sinusaler Rhythmus, typischerweise mit negativen P-Wellen in II und III)
  • Variabel: wandernder Schrittmacher, AV-Block Grad II Typ Wenckebach

 

AV-Blockierungen:

AV-Block Grad I (Abb.6): konstante Verlängerung PQ-Intervall. Kann im Kindesalter normal sein, z.B. bei hohem Parasympathikus (Schlaf, trainierter Sportler). DD pathologisch bei angeborenem Herzfehler (häufigste Ursache)

AV-Block Grad II Typ Wenckebach (Abb.7): progressive Verlängerung des PQ-Intervalls mit schliesslich Ausfall eines QRS-Komplexes. Kann im Kindesalter normal sein, z.B. bei hohem Parasympathikus (Schlaf, trainierter Sportler).

AV-Block II Typ Mobitz (Abb.8): Ausfall eines QRS-Komplexes nach konstanten PQ-Intervallen. Entspricht einer höhergradigen AV-Blockierung (Blockierung distal des His-Bündels, infrahissär) und ist immer pathologisch. Kann in einen kompletten AV-Block übergehen.

​​​AV-Block Grad III (Abb.9): Kompletter Block der Erregungsleitung zwischen Vorhof und Kammer. Ist immer pathologisch

QRS Dauer:

Entspricht der Erregungsausbreitung über die Kammern. Ist altersabhängig (Tab. 1)

  • Verlängert: DD Präexzitation (Abb.4), Schenkelblockbilder, Ventrikelhypertrophie, ventrikulärer Rhythmus / Extrasystolen, ausgeprägte Hyperkaliämie, intraventrikulärer Block, Schrittmacherrhythmus
  • Q Zacken auffällig tief: Zeichen für Hypertrophie (Volumenbelastung)
  • Q Zacken auffällig tief und breit: Zeichen für Myokardschaden

 

Schenkelblöcke:

Bei Schenkelblöcken ist die Repolarisation und Hypertrophiezeichen formell nicht beurteilbar

  • kompletter Rechtschenkelblock: rSR'-Formation in V1,2 (M-förmig), +/- V3; diskordant negatives T in V1,2, +/- V3; breites, tiefes S in allen linkslateralen Ableitungen I,aVL,V5, V6
  • kompletter Linksschenkelblock: Tiefe S-Zacken in V1,2; R sehr niedrig oder nicht vorhanden (QS-Komplexe); evtl. rSR'-Formation in V5 oder V6; diskordantes Verhalten von ST-Strecke und T in allen Brustwandableitungen
  • linksanteriorer Hemiblock: Überdrehter Linkstyp und S-Persistenz in V6
  • linksposteriorer Hemiblock: (Überdrehter) Rechtslagetyp;  keine weiteren spezifischen Zeichen, deswegen im EKG schwer zu erkennen​​​​​​​​​​​​​

 

QT Intervall:

Entspricht der ventrikulären Depolarisation und Repolarisation. Ist v.a. von der HF abhängig und wird daher frequenzkorrigiert (QTc). Das Long-QT-Syndrom ist assoziiert mit schweren ventrikulären Arrhythmien und plötzlichem Herztod. "Grenzwertige QTc-Verlängerung ohne weitere EKG-Veränderung, ohne klinische Symptome und ohne positive Familienanamnese repräsentieren meist den oberen Normbereich der Normalpopulation. Gibt es jedoch eine entsprechende Anamnese mit Synkopen, plötzlichem frühen Herztod in der Familie oder Einnahme von QTc-verlängernden Medikamenten sollte eine weitere kardiologische Abklärung folgen" 3)

  • Berechnung: QTc = QT / √ RR (QT in Ableitung II gemessen, RR in Sekunden)
  • Normwerte:
    • erste Lebenswoche: bis 0.47 Sek
    • frühe Kindheit: bis 0.45 Sek
    • 1-15 Jahre: < 0.44 Sek (grenzwertig 0.44 – 0.46 Sek; verlängert > 0.46 Sek)​​​​​​​
  • Verlängert: DD Long-QT-Syndrom, Hypokalzämie, Hypokalämie, entzündliche herzerkrankungen, Myokarderkrankungen, Schädelhirntrauma, Medikamente (Antiarrhythmika der Klasse IA, IC und III, Antidepressiva, Antihistaminika, Methylphenidat z.B. Ritalin, Concerta), Schenkelblöcke
  • Verkürzt: DD Short-QT-Syndrom, Hyperkalzämie, Hyperkaliämie, Digitalis

Hypertrophiezeichen

Die Beurteilung erfolgt am besten in den Brustwandableitungen, v.a. in den Ableitungen V1 und V6. Im Gegensatz zum Hinzuzug des Sokolow-Lyon-Index zur Beurteilung des Vorliegens einer Hypertrophie bei den Erwachsenen gelten bei den Kindern altersentsprechende Normwerte (Tab. 1).

 

Atriale Hypertrophie: Beurteilung anhand der P-Welle, Norm Höhe < 3mm, Dauer < 70ms (Säuglinge) bzw < 90ms Kinder

  • P-Pulmonale/dextrokardiale: P-Amplitude > 3mm meist in II, V1, V2; entspricht einer rechtsatrialen Hypertrophie
  • P-Mitrale: P-Breite > 0.7sec bei Säuglingen bzw > 0.9 Sec bei Kindern; P-Welle meist doppelgipflig bzw V1 biphasisch; entspricht einer linksatrialen Hypertrophie,

 

Rechtsventrikuläre Hypertrophie:

  • Widerstandhypertrophie:
    • Verdickung des rechtsventrikulären Myokard, z.B. Pulmonalstenose, Fallot-Tetralogie
    • QRS-Rechtslage, hohe R-Zacken in V1, tiefe S-Zacken in V6 (altersentsprechende Normwerte Tab.1); ST-Senkung und negative T-Wellen in V1 und V2
  • Volumenhypertrophie:
    • Vergrösserung des rechten Ventrikels durch Volumenbelastung, z.B. grosser ASD
    • QRS-Rechtslage, inkompletter Rechtsschenkelblock (typisch: rsR', rR's), R-Zacken in V1 weniger hoch als bei Wiederstandhypertrophie, plumpe mässige S-Zacken in V5, V6; ST-Senkung und negative T-Wellen in V1 und V2, Ausdehnung von negativen T-Wellen nach links präkordial

 

Linksventrikuläre Hypertrophie: weniger gute Sensitivität im EKG wie rechtsventrikuläre Hypertrophie

  • Widerstandshypertrophie:
    • Verdickung des linksventrikulären Myokard, z.B. Aortenstenose, hypertrophe Kardiomyopathie
    • QRS-Linkslage (nicht obligat), hohe R-Zacken in V6; tiefe S-Zacken in V1 (altersentsprechende Normwerte Tab.1)
    • Verzerrungsmuster ("strain pattern") bei ausgeprägter Druckbelastung: konvexbogige ST-Senkung und negative T-Wellen inferior und in V5, V6, Q-Zacken links präkordial
  • Volumenhypertrophie:
    • Vergrösserung des linken Ventrikels durch Volumenbelastung, z.B. grosser VSD
    • tiefe S-Zacken in V1, ausgeprägte Q-Zacken in V5 und V6, leicht erhöhte R-Zacken in V5 und V6

Repolarisation

ST-Strecke

Zeit zwischen der ventrikulären Depolarisation (QRS Komplex) und T-Welle. Normalerweise horizontal und isoelektrisch mit isoelektrischer Linie vor der P-Welle als Referenzpunkt. ST-Hebung oder Senkung mit Abweichung bis zu 1mm sind normal und häufig bei gesunden Kindern. Perikarditis und Myokarditis als häufigste Ursache für pathologische ST-Veränderung, seltener Myokardischämien. Bei Schenkelblöcken und Präexzitationssyndromen kann die ST-Strecke formell nicht bewertet werden!

Besonderheiten:

  • Frühe Repolarisation: Normalbefund bei Adoleszenten mit Normalisierung bei Sympathikotonus, z.B. bei Belastung. Anhebung des J-Punkts (Übergang des Endes des QRS-Komplexes bzw der S-Zacke in die ST-Strecke, Abb. 10) bis max 0.4 mV in den Brustwandableitungen (v.a. V3, V4) mit ST-Hebung in den mittleren Brustwandableitungen und in den inferioren Ableitungen II, III, aVF. Hebung der ST-Strecke in allen Ableitungen mit positiven T-Wellen und Umgekehrt. Geht häufig mit einer hohen T-Welle einher.
  • ST-Hebungen:
    • Myokardinfarkt: ST-Hebung und Abgang der ST-Strecke aus R-Zacke
    • Perikarditis: ST-Hebung und Abgang der ST-Strecke aus S-Zacke
  • ST-Senkungen:
    • Endokardiale Ischämie
    • Linksventrikuläre Hypetrophie: ST-Senkung in I, aVL, V5, V6
    • Rechtsventrikuläre Hypertrophie: ST-Senkung in V1, V2
    • Digitalisierung: muldenförmige ST-Senkung
    • Mitralklappenprolaps: deszendierende ST-Senkung, präterminale negative T-Wellen in II, III und aVF

T-Welle

Entspricht der ventrikulären Repolarisation. Die Amplitude beträgt normalerweise ¼ der zugehörigen R-Amplitude und ist konkordant zum QRS in den Extremitätenableitungen. Negative T-Wellen in den Brustableitungen sind physiologisch im Kindesalter (vs pathologisch bei Erwachsenen). Das Ausmass der T-Negativität  ist altersabhängig mit Abnahme der T-Negativität mit Zunehmendem Alter (Säugling T negativ V1-V5 möglich, Jugendlicher häufig nur noch in V1).

  • zu hohe T-Welle: DD Hyperkaliämie (zeltförmige spitze T-Welle), linksventrikuläre Hypertrophie, erhöhter Parasympathikotonus (z.B. gut trainierter Jugendlicher), Sinusbradykardie
  • zu flache T-Wellen: DD Hypokaliämie, Hyper- / Hypoglykämie, Hypothyreose, Peri-/Myokarditis, Myokardischömie, Digitalisierung
  • Diskordante T-Welle: T-Welle hat nicht den gleichen Ausschlag wie QRS-Welle, DD Myokardhypertrophie ("strain pattern"), myokardiale Dysfunktion, Ischämie, entzündliche Herzkrankheit (Perimyokarditis)
  • T-Welle Alternans: abwechslungsweise positive und negative T-Wellen in einer Ableitung, DD Long-QT-Syndrom

 

U-Welle

Positive, bzw zur T-Welle konkordante Welle nach der T-Welle. Entspricht möglicherweise der Repolarisation des His-Purkinje-Systems. Ist häufig bei gesunden Kindern und Jugendlichen. Auffällig hoch bei DD Hypokaliämie, linksventrikuläre Hypertrophie

Quellen

  1. EKG im Kindes-und Jugendalter. H. Gutheil et al. 6. Auflage. George Thieme Verlag. 2008
  2. Normal ECG standards for infants and children. Davignon A. et al. Pediatr Cardiol 1979/80
  3. EKG-Interpretation bei Kindern. Ein Leitfaden für die Evaluation altersspezifischer Befunde. D. Wütz et al. Pädiatrie, (3):7-12 
  4. Open Source