Enuresis nocturna und Inkontinenz tagsüber

Inhaltsverzeichnis

(Ergänzung zu Merkblatt Nephrologie): Abklärung von Miktionsstörungen mit rezidivierenden Harnwegsinfektionen mit / ohne Inkontinenz siehe PDF-File

(Ergänzung zu Merkblatt Nephrologie): Abklärung von Miktionsstörungen mit Inkontinenz ohne Harnwegsinfektionen siehe PDF-File


Autoren: Prof. Dr. med. T. J. Neuhaus / Dr. med. S. Shavit
Version: 06/2018

Kontinenz-Zentrum Kinderspital Luzern

Im Kinderspital Luzern werden Kinder mit Urininkontinenz (und Stuhlinkontinenz) in einem interdisziplinären Team abgeklärt und behandelt. Die Ursachen sind einerseits funktionell, andererseits organisch im Rahmen von angeborenen Fehlbildungen oder neurologischen Störungen.

Das Team umfasst:

  • Kinderärzte
  • Nierenspezialisten (Nephrologen)
  • Kinderchirurgen/-Urologen
  • Magen-Darm-Spezialisten (Gastroenterologen)
  • Röntgenärzte (Radiologen)
  • Kinderphysiotherapeuten
  • Psychologen
  • Spezialisierte Pflege

Zur Abklärung gehören unter anderem:

  1. ausführliche Anamnese (inklusive Miktionsprotokoll über 2 Tage)
  2. körperliche Untersuchung inkl. neurologischer Status
  3. Blasenfunktionstests wie Uroflowmetrie mit Restharnbestimmung, Elektromyographie (EMG) und Urodyamik (Volumen-, Druck- und Urinflussmessung mit Blasenkatheter)
  4. Ultraschall der Nieren und ableitenden Harnwege
  5. Bei gleichzeitigem Vorliegen von Obstipation oder Enkoprese (Einkoten): Konsultation bei den pädiatrischen Gastroenterologen und Kinderchirurgen; bei speziellen Fragestellungen auch Rektum-Manometrie

Definitionen: Enuresis / Einnässen / Miktionsstörungen

(gemäss der International Children's Continence Society: ICCS)

Inkontinenz bedeutet unwillkürlicher Urinverlust, der kontinuierlich oder intermittierend auftritt. Die Einteilung erfolgt in Inkontinenz tags und Inkontinenz nachts (= Enuresis nocturna). Bis zum Alter von 5 Jahren ist die Inkontinenz physiologisch (normal).

Die intermittierende Inkontinenz umfasst in der Regel funktionelle Störungen

Die kontinuierliche Inkontinenz tritt vor allem bei organischen Störungen auf.


Organische Störungen

- Posteriore Urethralklappen bei Knaben, vaginal ektoper Ureter bei Mädchen

- Neuropathisch: z.B. MMC

Entwicklung der Blasen- und Darmkontrolle

Largo et al*

- Zürcher Longitudinalstudie 1: 320 Kinder, geboren 1954 – 56
- Zürcher Longitudinalstudie 2: 309 Kinder, geboren 1974 – 84:
Eltern „toleranter“ aus praktischen Gründen (Pampers), nicht aus sozialpolitischen (68-er) Gründen !

dennoch keine Alters-Unterschiede bei folgenden Parametern:
- Eigeninitiative des Kindes: will auf den Topf
- definitive Blasen- und Stuhlkontrolle


*Largo et al: Entwicklung der Darm-/Blasenkontrolle von 0 bis 18 J. Schw Med Wochenschr 1978;108:155-60

„Bladder control: a consequence of maturation and not of training“:
We report on three children with early end-stage renal failure due to renal malformation or nephrotic syndrome, but without bladder involvement. All patients became anuric in the second year of life, before having obtained bladder control. They underwent successful cadaveric renal transplantation, having been anuric for almost two to four years. As the bladder catheter was removed five days after transplantation, all three children asked for the urine potty without ever having been prompted. Three weeks after transplantation, all three children achieved complete bladder control during the day, and two of them also at night. These observations add further evidence to the notion that the development of bladder control is a consequence of maturation and not of training.

Neuhaus et al: Dev Med Child Neuro 1998;40:193-4


„Trias“ der Entwicklung der Blasenkontrolle / Blasenreifung

Blasenkontraktilität
Infantile Blase:
- Blasenwanddehnung löst durch spinalen Reflex eine Kontraktion des Detrusors aus
- bereits bei niedrigem Volumen (Physik: je kleiner Blase, desto höher der Druck)
- somit häufige Entleerungen mit geringem Volumen
- oft Restharn (typischerweise vorhanden, wenn gleichzeitig eine Obstipation vorliegt)

Entwicklung: Miktionszentrum im dorsalen pontinen Tegmentum:
- aktiv im Wachzustand und im Schlaf (ohne den Schlaf zu unterbrechen)
in Füllungsphase:
- nimmt Afferenzen der Blase wahr (Füllung, resp. Dehnung der Wand)
- unterdrückt den spinalen Reflex und hemmt Detrusoraktivität / stimuliert Blasensphinkter
- * Entwicklung der funktionellen Blasenkapazität tags / nachts (nicht immer parallel !)

bei Miktion:
- koordiniert Detrusor und Sphincter, und bewirkt vollständige Miktion ohne Restharn (Säuglinge und Kleinkinder haben physiologisch etwas Restharn; vermehrt bei Obstipation)

Schlaf / Weckbarkeit
- physiologisches Einnässen nachts eher während Non-Rem Schlaf (somit öfters in den ersten 2/3 der Nacht)
- Weckbarkeit aufgrund Blasenfüllung: beginnt meist erst > 2 Jahren; am geringsten im 1. Schlafdrittel


Blasen- und Urinvolumen / resp. Blasenkapazität tags / nachts

* Blasenvolumen: [Alter (Jahre) x 30] + 30 = ... ml
Urinvolumen: - circadianer Rhythmus der Urinproduktion (und auch ADH-Produktion ?!)
- Urinproduktion nachts oft etwas geringer, aber nicht immer (z.T. auch
umgekehrt), auch abhängig von der Verteilung der Trinkmenge

Monosymptomatische Enuresis nocturna primaria (E.n. 1°)

Prävalenz

- Knaben > Mädchen: „bis zum Kindergarten, resp. Schuleintritt = normal“
- oft 1°, seltener 2° (definiert als erneutes Einnässen, nach mind. 1 Monat lang
trocken)
- im Alter von 5 Jahren: 10 – 15%; 10 J: 5%; Adoleszente: 1–3%;
- „Spontan-Heilung“ pro Jahr: 10 – 20%

Genetik

- falls ein Elternteil betroffen: Risiko ca. 40%; beide Eltern betroffen: Risiko ca. 75%
- Linkage Analyse: mehrere Genloci, aber noch kein Gen

Ursachen der E.n. 1° sehr komplexe Entwicklungsverzögerung der „Trias“

- normale Physiologie (Uroflowmetrie und Manometrie) und normale Anatomie !! aber:
- verzögerte Entwicklung der zentralen Steuerung der Blase (Detrusor / Sphincter)
- verzögerte Entwicklung der funktionellen Blasenkapazität nachts (bei isolierter E. n. 1° Blasenfunktion tags aber normal!)
- verzögerte Entwicklung der Weckbarkeit aufgrund einer vollen Blase (und anderer, z.B. akustischer Reize)
- hohes nächtliches Urinvolumen („nächtliche Polyurie“) mit ungenügendem Ansprechen auf ADH

→selten 1 Grund allein: Wäre z.B. eine hohe Urinmenge der einzige Grund, dann
- müssten alle Kinder mit einer kleineren (aber noch normalen) Blasenkapazität einnässen
- würde die Beschränkung der Trinkmenge die E.n. erfolgreich beheben
- würde DDAVP bei 100% der Kinder sofort wirken

→meist keine Krankheit, sondern Entwicklungsverzögerung
- meist keine 1° psychologische / psychiatrische / kognitive Störung assoziiert

Abklärungen/Untersuchungen bei Enuresis nocturna und Inkontinenz tagsüber

PA:

- Harnwegsinfektionen: febril / afebril
- Miktion: tags und nachts: Häufigkeit, Strahl, Träufeln, Drang-, Stressinkontinenz, "Haltemanöver" (Kauern, Fuss in Genitale ...)
- Trinkverhalten, - menge
- Stuhlverhalten: Obstipation / Enkoprese (und vice versa)
- „Was wurde schon gemacht?“ bezüglich Abklärung / Therapie (und wie instruiert)
- gehäuft bei ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) und obstruktivem
Schlafapnoesyndrom (OSAS)

FA:

- E. nocturna bei Eltern und Geschwister (Erhebung falls möglich ohne Pat!)
- Fragen wie bei PA

Klinische Untersuchung: 1 x bei 1. Konsultation: exakter Status!

- Genital-urologisch
- Rektal-Anal (inkl. Lage Anus) und Rücken: Haut, Wirbelsäule
- Neurostatus (Neuropathische Blase ?)

„Labor“

- immer: Urinstatus und Spez. Gewicht (1. Morgenurin): > 1015 (= Konz. fähigkeit normal)
- plus bei Inkontinenz tagsüber (nicht 1° bei Enuresis nocturna):

- Ultraschall: Restharn, Blasenwand

Blasenfunktionstests

- Uroflowmetrie


Cave

Uro-nephrologische oder andere organische Störung ausschliessen, falls:
- Enuresis nocturna 1° und Inkontinenz tags
- HWI in der Anamnese
- Polyurie und Polydipsie: 1° oder 2° (resp. immer tiefes spez. Gewicht)
- neu aufgetretene Enuresis nocturna 2°
- Diabetes mellitus / Diabetes insipidus centralis
- Harnwegsinfektion (Cystitis)
- psychische Ursache, inkl. Kindsmisshandlung

Therapie der monosymptomatischen Enuresis nocturna und Inkontinenz tagsüber

Allgemein
Zeit nehmen, ernst nehmen, Information, Aufklärung und Demonstration der Kurven (Largo et al)
Ist Motivation für Behandlung vorhanden? Bei wem ? Eltern und/oder Patient ?
Was ist (Miss-)Erfolg?

- in Publikationen immer sehr relativ
- Erfolg aus Sicht des Patienten = wenn 100% trocken
- Placebo: kurzfristiger Erfolg 25 – 40%

Monosymptomatische Enuresis nocturna
Aktive Massnahmen → kurzfristiger Erfolg bis 80%: Rückfallquote nach raschem Absetzen hoch!

1. „Konditionierung“ mit Weckapparat

- Motivation des Patienten
(Ton oder Vibrator) - Motivation / Mitarbeit der Eltern: Weckarbeit anfänglich
obligat
- „harmlos“, physiologisch
- Dauer ca. 3 Monate, dann Absetzversuch
- Effekt / Wirkung der „Konditionierung“?

2. DDAVP (V2-Stimulator):

- „einfach“ zu verschreiben; Verabreichung am Abend in 1 Dosis
Melt-Tabletten - nach Einnahme nichts mehr trinken bis zum nächsten Morgen *
(60 – 120 – 240 ug) - Einsatz: - Dauertherapie: 3 – 6 – 12 Monate (bis Jahre ?!)
oder - ev. nur gezielt (für Wochenende auswärts, Lager) mit Tabletten Testphase einige Tage vorher (0,2 – 0.4 – 0.6 mg)
* sonst Gefahr von Nebenwirkungen: Hyponatriämie, Krämpfe
Achtung: Seit 2008 Nasenspray für diese Indikation nicht mehr
zugelassen.


Inkontinenz tagsüber

1. Blasentraining:
- regelmässige und vollständige Miktion ("Doppelmiktion")
- bei Mädchen mit vaginalem Reflux: umgekehrt auf WC sitzen
- ev. gezielte „Urophysiotherapie/Beckenbodentherapie“

2. Bei überaktiver Blase Oxybutyninum (Ditropan) per os: 0,25 mg /kg/KG pro dosi (maximal 5 mg pro dosi, sonst cave: trockener Mund, Akkommodationsstörungen): 2 Dosen pro Tag.