Onkologische Notfallsituationen: Tumorlyse-Syndrom (TLS, syn. Akutes Zellzerfall-Syndrom)

Inhaltsverzeichnis

Autoren: Freimut H. Schilling (Pädiatrische Onkologie), Thomas Neuhaus (Pädiatrische Nephrologie), Martin Stocker (Pädiatrische Intensivmedizin) Version: 06/2020

Risikogruppen

Die Inzidenz des TLS ist extrem variabel und krankheitsabhängig. Ein TLS entwickelt sich mit höherer Wahrscheinlichkeit bei malignen Diagnosen mit hoher Tumorlast, schnellem Zellumsatz und schnellem Ansprechen auf Chemotherapie.

Am häufigsten tritt ein TLS bei

  • akuten Leukämien (besonders ALL und AML mit Hyperleukozytose)
  • Non-Hodgkin Lymphomen vom Burkitt-Typ bzw. reife B-ALL

auf. Des Weiteren kann ein TLS jedoch bei scheinbar risikoarmen Patienten mit anderen hämatologischen bzw. onkologischen Erkrankungen unerwartet auftreten. Alle Patienten, die sich in der ersten Woche nach Chemotherapiestart befinden, sollten deshalb immer sorgfältig überwacht werden.

Grundsätzliche Aspekte

Beim Zerfall von Tumor-/Lymphom-/Leukämiezellen werden insbesondere 5 Substanzen freigesetzt, die ausschließlich über die Niere ausgeschieden werden:

  • Xanthin
  • Hypoxanthin
  • Harnsäure
  • Kalium
  • Phosphat

 

  • Allopurinol hemmt den Abbau von Xanthin und Hypoxanthin zu Harnsäure.
  • Rasburicase (rekomb. Uratoxidase) baut Harnsäure zu wasserlöslichen Allantoin ab.
  • Bei Überschreiten des Löslichkeitsproduktes können Xanthin, Hypoxanthin und Harnsäure kristallisieren. Dies erfolgt in den Nierentubuli und Sammelrohren.
  • Phosphat kann mit Calcium zu Calciumphosphat ausfallen, sowohl in den Nierentubuli als auch in der Endstrombahn der Gewebe. Die Folgen sind Oligo-/Anurie, Gewebsnekrosen und Hypocalcämie.
  • Die Löslichkeit von Xanthin und Harnsäure ist im alkalischen Milieu sehr viel höher als im Sauren, die Ausfällung von Phosphat mit Calcium wird dagegen im alkalischen Milieu begünstigt. Auch Hypoxanthin kann bei einem Urin-pH > 7,5 kristallisieren. Die Alkalisierung des Urins kann also auch die Ausfällung von Zellzerfall-Produkten begünstigen.
  • Liegt bereits vor Beginn der zytoreduktiven Therapie eine Erhöhung der Harnsäure, des Kaliums, des Phosphats oder des Kreatinins vor, sollen zunächst Maßnahmen zur Normalisierung dieser Laborparameter eingeleitet werden, bevor die zytoreduktive Therapie begonnen wird.
  • Der Beginn der zytoreduktiven Therapie sollte jedoch nicht wesentlich länger als 24 Stunden hinausgeschoben werden.
  • Die wichtigste Maßnahme ist die Initiierung und Aufrechterhaltung eines hohen Urinflusses (100-250 ml/m²/h). Gelingt dies befriedigend, sind interventionsbedürftige metabolische Imbalancen selten.
  • Gelingt es trotz ausreichender Flüssigkeitszufuhr und Diuretika nicht, einen ausreichenden Urinfluss zu initialisieren oder aufrechtzuerhalten, müssen rechtzeitig Vorbereitungen zur Hämofiltration/-dialyse getroffen werden. Es liegt dann mit großer Wahrscheinlichkeit entweder eine ausgedehnte Infiltration der Nieren, eine Obstruktion der ableitenden Harnwege durch Lymphome oder eine fortgeschrittene Urat- oder Calciumphosphat-Nephropathie bzw. eine Kombination dieser pathologischen Zustände vor.
  • Die Hyperkaliämie ist die häufigste, unmittelbar lebensbedrohliche Komplikation des akuten Zellzerfall-Syndroms. Kommt es nach Einleitung der Maßnahmen zur Prävention des akuten Zellzerfall-Syndroms zu einem Anstieg des Kaliums über den Normbereich bzw. bei vorbestehender Hyperkaliämie nicht rasch zu einer abfallenden Tendenz, kann sich innerhalb von Stunden eine lebensbedrohliche Hyperkaliämie entwickeln.
  • Die progrediente Hyperphosphatämie ist häufig der Trigger zur Indikation einer Therapie mit Nierenersatzverfahren (Hämofiltration/-dialyse)

Präventive Massnahmen

  1. Rasburicase: 0.2 mg/kg KG/d intravenös über 30 Minuten bis Haupttumorzerfall abgeschlossen ist
  2. Flüssigkeitsmanagement:
    • 3'000-5'000 ml/m²/d (balancierte Lösungen: Ringeracetat 1 % Glucose)
    • Bilanzierung: Ausfuhr = Einfuhr – Perspiratio, Bilanz 8 stündlich
    • Körpergewicht 1-2 mal täglich kontrollieren
    • Bei Einfuhrplus >20% -> Furosemid 0.5-1.0 mg/kg/Gabe i.v.
  3. Eine geringgradige Hypokaliämie ist unproblematisch, keine Substitutionsindikation >2.5 mmol/l
  4. Eine Alkalisierung des Urins nach Einsatz von Rasburicase ist entbehrlich. Harnsäure muss weiter kontrolliert werden (gekühlte Präanalytik unter Rasburicase).
  5. Laborkontrollen:                                             
  • Blutbild, Na, K, Cl, Ca, Phosphat, Blutgase, Harnsäure, Kreatinin alle 12-24 h;in kritischen Fällen bzw. initial auch häufiger

Hyperkaliämie

  • Kalium ≥ 6 mmol/l:       Hämofiltration/-dialyse vorbereiten
  • Kalium ≥ 7 mmol/l        sofortige Hämofiltration/-dialyse

akute Maßnahmen bei Hyperkaliämie

1. Steigerung der Diurese

  • plus Furosemid 1 mg/kg/Gabe i.v.

2. Salbutamol Inhalation 0,1 mg/kg (1 Trpf./Lebensjahr);

  • ggf. wiederholen (max. 10 Trpf./ED)
  • intravenös 15 μg/kg langsam (über 15 Minuten: EPIC-Verordnung) i.v., ggf. DTI 1μg/kg/min

3. Glukose 10% + 0.05-0.2 E/kg/h schnellwirksames Insulin (z. B. Actrapid®) 1 g/kg/h Glukose + 1 I.E. schnellwirksames Insulin/4 g Glukose

      • oder 100 ml Glukose 10% + 2-3 I.E. schnellwirksames Insulin
      • Bolus 2 ml/kg i.v., dann 10 ml/kg/h DTI
      CAVE Empfehlungen 2. und 3. bewirken nur die Umverteilung von K+ nach intrazellulär; K+ flutet nach 2-4 Stunden in den Extrazellulärraum zurück, deshalb nur zur Zeitüberbrückung bis Hämofiltration/-dialyse einsetzen.

       

      4.       Resonium® p.o. 0,5-1 g (meist per Magensonde; kein rektaler Einlauf bei Granulozytopenie)

      ggf. zusätzlich

      5.       Bei EKG Veränderungen (QT-Verbreiterungen und/oder hohen T-Wellen): Ca-Glukonat 10% 0,5-1 ml/kg i.v. langsam; cave: Bradykardie

      6.       Bei metabolischer Azidose: NaHCO3 8.4% 1-2 ml/kg i.v.

      Hyperphosphatämie

      • Flüssigkeitszufuhr in den oberen Bereich (bis 5'000 ml/m²/24h)
      • Urin-pH nicht > 7.0
      • Reduzierung des exogenen und endogenen Phosphatanfalls (parenterale Ernährung), bei Serumphosphat >3  mmol/l Diskussion der Hämofiltration/-dialyse.
      • bei gleichzeitig bestehender klinisch manifester Hypocalcämie: Ca-Glukonat 10%: 0.5-1(-2) ml/kg i.v. (cave: Bradykardie, Monitorüberwachung)

      Hypocalcämie

      Korrektur des Calciumspiegels nur, wenn die Phosphatwerte (hoch-)normal sind oder klinische Symptome auftreten (Tetanie).

        • Ca-Glukonat 10%: 0,5-1(-2) ml/kg i.v. (cave: Bradykardie, Monitorüberwachung)
        • Serummagnesium überprüfen
        • bei Hypomagnesiämie: Magnesium-Sulfat 0.1-0.4 mmol/kg i.v.
      CAVE Calcium-Infusion kann zur Ausfällung von Calciumphosphat führen

       

      Oligo-/Anurie

      Definition       

      Urinausscheidung < 50 ml/m²/h trotz Furosemid (10 mg/kg/d i.v.) Flüssigkeitszufuhr 130-200 ml/m²/h.

      CAVE

      Die "übliche" Oligo-/Anurie Definition, Urinausscheidung < 0.5 ml/kg/h über 24 Stunden bzw. Anurie für >12 h, ist in dieser Situation nicht brauchbar. Die hohe Anflutung insbesondere von Kalium kann bei Zuwarten bis zum Erreichen dieser Definition rasch letale Werte erreichen. Die Ausscheidung muss in Relation zur Einfuhr bewertet werden.

       

      Diagnostik

      • Sonographie
        • Harnwegsobstruktion?
        • Niereninfiltration?
      • Labor
        • Kalium, Harnsäure, Phosphat, Calcium
        • Urin: Harnsäure-Kristalle, Calcium-Phosphat-Kristalle

      Therapie

      Hämofiltration /-dialyse spätestens beim Anstieg des Kaliums >6 mmol/l planen

      Indikationen zur Vorbereitung / Einleitung Hämofiltration/-dialyse

      • Kalium
        • > 7 mmol/l
        • > 6 mmol/l und ansteigende Tendenz trotz Flüssigkeitszufuhr und Diuretika
      • Phosphat               
        • > 3  mmol/l  
      • Kreatinin
        • wenn pro 24 h Anstieg > 100 µmol/l
      • Harnsäure             
        • > 600 μmol/l
      • Urinausscheidung 
        • < 50 ml/m²/h trotz Furosemid 10 mg/kg/d  und unter Flüssigkeitszufuhr von 130-200 ml/m²/h
      • beidseitige hochgradige oder vollständige Harnwegsobstruktion

      Grundlagen und weitere Informationen